10. Stunde Zaubertrankkunde
Tag 1 – Der Nebelwald
In der Mitte des Hofes sammelte sich die Klasse. Professorin Sindony, in ihrem typischen grünen Gewand, trat mit einem unergründlichen Lächeln vor uns. Als sie verkündete, dass wir einen Außeneinsatz vor uns hatten, der mehrere Tage in Anspruch nehmen würde, wurde es einen Moment still. Dann begann das Raunen. Einige bekamen Panik und vertagten die Prüfung vorerst. Doch ich blieb. Dies war der Moment, auf den ich hingearbeitet hatte. Ich hatte Tränke vorbereitet, Zauber geübt, mich mit Marin abgestimmt. Ich war bereit, jedenfalls so bereit, wie man für etwas Unbekanntes sein konnte. Es ging los.
Ich schlang meinen Umhang enger um mich, als wir den Nebelwald betraten. Der silbergrüne Dunst zwischen den knorrigen Bäumen erinnerte mich an den Zuckernebel meiner eigenen Magie, nur sehr viel düsterer. Der Nebelwald war kein gewöhnlicher Wald. Er hatte eine Art von Bewusstsein, das ich schon beim ersten Schritt spüren konnte. Der Nebel bewegte sich, als hätte er Augen. Marin schwebte mit einem eleganten Satz auf einen bemoosten Ast und beobachtete die Umgebung aufmerksam.
“Bist du bereit?”, fragte sie leise und blickte zu mir auf.
“Ich bin bereit, wenn du es bist.”, gab ich zurück.
“Hörst du auch dieses Flüstern?”, murmelte sie leise. Ich nickte. Der Nebelwald war bekannt dafür, dass er Reisende verwirrte. Geräusche hallten falsch wieder, Pfade veränderten sich, als würden die Bäume sich einen Spaß mit dir erlauben.
Ich griff in meine Umhängetasche und holte eine kleine Phiole hervor. Den ersten Trank für unsere Reise Visus Viventis, ein Trank, der die Sinne verschärft. Ein paar Tropfen auf die Zunge und sowohl meine Sicht als auch mein Gehör wurden deutlich präziser. Das Geflüster konnte mich nun nicht mehr täuschen und der Nebel konnte mich nun nicht mehr in die Irre führen. Marin setzte sich auf meine Schulter, als ich uns geschickt durch den Wald und an all seinen heimtückischen Fallen vorbei manövrierte. Es vergingen einige Stunden, die Wirkung des Trankes ließ gerade dann nach, als wir den Rand des Waldes erreichten. Glück gehabt. Als wir den Wald verließen, erstreckte sich vor uns der steinige Anstieg des Falkenpasses. Wir schlugen unser Lager an einer ruhigen, ebenen Fläche auf und aßen ein paar Onigiri, die ich vor der Reise vorbereitet hatte. Ich sprach einen leichten Zauber zum Schutz vor wilden Tieren und wir legten uns schlafen.
Tag 2 – Der Falkenpass
Der Morgen kam. Die Sonne war hinter grauen Wolken verborgen und es wehte ein unheilvoller Wind. Wir machten uns auf und kamen nach einer Stunde am Fuße des Falkenpasses an. Die Felsen waren zerklüftet, steil und schmal, definitiv kein Gebirge für Anfänger. Und ich durfte meinen Besen nicht einsetzen. Diese Aufgabe war nichts für faule Hexen.
Schon der erste Anstieg brachte mich an meine Grenzen. Der Boden war glitschig, der Wind stach wie tausend kleine Nadeln. Marin schwebte nah an der Wand, um nicht vom Wind erfasst zu werden, doch ihr fiel es natürlich sehr viel leichter. Ich kämpfte mich Meter für Meter nach oben. Nach einem besonders steilen Vorsprung, an dem mir zusätzlich noch ein Steinschlag entgegenkam, machten wir auf einer flachen Stelle kurz Rast. Kälte und Erschöpfung überkamen mich, doch ich musste mich zusammenreißen. Mit zitternden Händen nahm ich erneut eine Phiole aus meiner Umhängetasche. Ignis Potentia ist der Name des Trankes, der mir Wärme und Energie spenden sollte. Belebt von dem Trank konnte ich weiter gehen. Oben auf dem Gipfel angekommen, war der Wind so stark, dass ich Marin an mich drücken musste, damit sie nicht weggeweht werden würde. Ich nahm meinen Hexenkristall in die Hand und sprach meinen Zauber.
“Amarin Marun Mira Mara Arun”
Eine schützende, windstille Kuppel bildete sich um uns herum und folgte uns auch, während wir weiter voranschritten. Unten im Tal war bereits das Moor zu sehen, natürlich extrem weit weg, doch unser Ziel zu sehen motivierte uns. Der Abstieg ging erstaunlich schnell voran. Es lag vermutlich zu großen Teilen an der Energie, die ich durch den Trank gewonnen hatte, doch kurz vor Einbruch der Nacht hatten wir den Berg hinter uns gelassen und unser Lager am Eingang zum Moor aufgeschlagen.
Erschöpft von dem beschwerlichen Aufstieg sanken wir beide zusammen und kuschelten uns aneinander. So schliefen wir ein und träumten von luftigen Höhen und zerklüfteten Schluchten.
Tag 3 – Tarrin’s Moor
Schon auf den ersten Metern im Moor fühlte sich alles anders an. Die Geräusche waren gedämpft. Man konnte keine Vögel hören, keine Insekten summten. Nur ab und zu das Platschen von Wasser unter den Füßen. Der Boden saugte uns fast auf und die Luft war dick und modrig. Der Boden war trügerisch. Gras, das wie Erde aussah, war manchmal nur eine dünne Schicht über fauligem Schlamm. Ich setzte jeden Schritt vorsichtig. Ein gespenstisches Leuchten durchdrang den Nebel. Wir begegneten geisterhaften Erscheinungen. Alte Wanderer, die hier umgekommen waren und deren Seelen im Sumpf gefangen waren.
Marin wurde fast von einem dieser Geister berührt, ihre Haut verlor an Glanz, es sah aus, als würden sie ihr die Lebensenergie aussaugen wollen. Blitzschnell griff ich in meine Tasche und holte eine Phiole Custos Umbrae zum Vorschein. Ein Trank zum Schutz gegen Geister. Ich kippte die Flüssigkeit in Windeseile herunter und augenblicklich wichen die Geister zurück. Marin sackte in meinen Händen zusammen. Sie war ganz blass und schwach. Ich tätschelte ihr den Kopf und trug sie eine Weile, bis es ihr besser ging. Je weiter wir vorangeschritten, desto dunkler wurde die gesamte Umgebung.
Wir erreichten einen runden, stillen Teich. Er war pechschwarz, die Oberfläche unbewegt. Und doch vibrierte etwas in der Luft. Eine Präsenz. Das Moor hatte noch einen letzten Wächter. Marin zog mich an meinem Umhang zurück, kaum dass ich einen Fuß näher setzte. Unter der Wasseroberfläche lag ein Körper, weder tot, noch lebendig. Ein uralter Sumpfhüter, gebunden an einen Eid. Er würde uns nicht passieren lassen, wenn er uns bemerkte. Ich zückte meinen Kristall und leise sprach ich meinen Zauber.
“Amarin Marun Mira Mara Arun”
Unsere Schritte wurden lautlos, unsere Präsenz war verborgen. Obwohl wir vollkommen unsichtbar waren, schlichen wir an dem Wächter vorbei. Er bemerkte uns nicht und verharrte in schlafender Starre, während wir uns auf Zehenspitzen zum Ausgang bewegten. Am Rande des Moors fanden wir einen trockenen Hügel mit jungen Birken. Ihre weißen Stämme waren das erste Helle, das wir seit Stunden sahen. Ich entfachte ein kleines Feuer, Marin kuschelte sich in meinen Schoß und ich strich ihr über’s Haar. Sie war noch immer geschwächt von der Begegnung mit den Geistern. Wir sprachen kaum, bereiteten uns stumm auf den letzten Tag vor.
Tag 4 – Birkhafen und die Drachenbegegnung
In Birkhafen angekommen, konnte man die Schönheit der herbstlichen Stadt nur erahnen. Der Himmel war düster verhangen, das Meer aufgewühlt. Wir wollten ein Boot zur Insel nehmen, doch die Fischer waren nervös, ein Drache sei in der Nähe gesichtet worden. Das erklärte wieso die Straßen so ungewöhnlich leer und ruhig waren. Der Marktplatz war verlassen, einige Stände schwarz vor Ruß. Der Drache war hier und offenbar hatte er eine stumme Warnung ausgesprochen.
Gerade als ich begann, den Platz nach weiteren Hinweisen zu durchsuchen, kam die Eule, meine Prüfungsbegleiterin im Tiefflug durch eine Gasse auf uns zu.
Ihre goldenen Augen funkelten, sie umkreiste uns, sprach mit magischer Stimme.
“Drachenpräsenz festgestellt, Gefahr hoch, Abbruch der Prüfung”
Nein, dachte ich. Wir waren so weit gekommen, das konnten wir jetzt nicht aufgeben. Ich wusste, ich würde ihm begegnen, doch ich musste mich ihm stellen, um nach Allvnd zu kommen und die Prüfung zu beenden. Kurzerhand lieh ich mir ein Boot von einem der hiesigen Fischer. Es war alt und ausrangiert, doch es würde für meine Zwecke reichen. Ich sprach meinen Zauber, um für Stabilität zu sorgen, die See war noch immer etwas rau, der Himmel düster und die Magie sorgte dafür, dass wir nicht umkippten.
Wir sahen das Ufer der Insel am Horizont, als es unter dem Boot plötzlich leuchtete. Blaues, gleißendes Licht schimmerte unter der Wasseroberfläche und sauste unter uns vorbei. Vor unserem Boot schoss ein riesiger Wasserdrache aus dem Meer, die Welle drohte uns beinahe zu kentern. Der Drache bäumte sich vor uns auf, musterte uns aufmerksam. Seine Flügel schlugen und wirbelten das Wasser um uns herum auf, damit er auf der Stelle fliegen konnte. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte, er schien Marin und mich nicht als Bedrohung zu sehen, doch wirkte er wachsam und fixierte uns. Wenn ich doch nur seine Gedanken…Moment. Ich griff in meine Tasche und zog meine letzte Phiole hervor. Dianoia, ein starker Trank, um Einsicht in die Intentionen des Gegenüber zu erhalten, quasi ein Gedankenlesetrank. Vorsichtig nahm ich einen Schluck, der Drache bewegte sich nicht. Er wartete. Der Trank entfaltete seine Wirkung und unsere Seelen verbanden sich für einen kurzen Moment. Vor meinem inneren Auge sah ich die Gedanken des Drachen. Wie durch einen Nebel zeigte der Drache mir seine Beweggründe. Ein Nest mit drei Eiern, unten auf dem Meeresboden in der Nähe der Insel. Das war also der Grund. Sie beschützte ihre Eier. Deswegen war sie so territorial und defensiv. Ich musste es sowohl in Birkhafen, als auch auf Allvnd an die jeweiligen Bürgermeister weitergeben, sie sollten Maßnahmen ergreifen und dem Drachen in der Brutzeit aus dem Weg gehen.
Ich gab dem Drachen Einblick in meine Pläne und für einen Augenblick wirkte ihr scharfer Blick sanft. Sie ließ sich rückwärts ins Wasser fallen und ich sah nur noch wie ihre schimmernden, leuchtenden Schuppen in der Tiefe verschwanden. Sie schien meinen Plan zu akzeptieren und ließ uns passieren. Das Meer beruhigte sich augenblicklich, sogar der Himmel klarte auf.
Als das Boot anlegte, spürte ich die Erschöpfung, doch ich musste schnell mit dem ansässigen Bürgermeister sprechen und die Lage erklären. Ich hatte die Prüfung mit meinen eigenen Füßen bewältigt, mit meinen Tränken, meiner Magie und mit Marin an meiner Seite. Als alles erledigt war, wollte ich so schnell wie möglich zur Akademie zurück. Es gab ein Portal im Dorf, das mich zurück zur Akademie bringen konnte. Ich sprach meinen Zauber, um es zu aktivieren und trat hindurch.
Der Hof war leer. Es war Nacht und der Himmel klar. Sternenlicht fiel auf meine Schultern. Marin und ich gingen zur Eingangshalle. Dort wartete Professorin Sindony, mit einem Blick, der halb verärgert und halb stolz gedeutet werden konnte. Ihre Augen funkelten bedrohlich, sie stand in ihrem Nachtgewand und verschränkten Armen vor mir.
“Ich sollte dich durchfallen lassen, für das absichtliche Ignorieren unserer Anweisungen”, wetterte sie los. “Doch in Anbetracht deiner Leistungen haben wir vom Kollegium uns entschieden ein Auge zuzudrücken.”
Ich strahlte sie an und bedankte mich tausend mal.
“Jetzt ab ins Bett, bevor ich es mir anders überlege”, sagte sie gespielt wütend.
Sofort düsten Marin und ich in Richtung Schlafräume.