Nyx‘ POV:
Nachdem ich meine letzten Übungen an der Übungspuppe beendet hatte, wandte ich mich neugierig um und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Die meisten meiner Mitschülerinnen hatten ebenfalls schon ihre Zauber erfolgreich abgeschlossen und begannen nun, sich gegenseitig in kleinen Partnerübungen herauszufordern.
Ich spürte, wie der Übermut in mir aufstieg, während ich lächelnd nach einem geeigneten Übungspartner Ausschau hielt. Da entdeckte ich Chary – meine beste Freundin. Sie war noch ganz vertieft in ihre Übung und bemerkte mich gar nicht, so sehr konzentrierte sie sich darauf, die Bewegungen ihrer eigenen Übungspuppe möglichst präzise einzufrieren. Ihre Stirn war angestrengt gerunzelt, ihre Lippen formten konzentriert lautlose Worte, und ein entschlossener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
Ein schelmisches Lächeln breitete sich langsam über mein Gesicht aus. Die Gelegenheit war einfach zu verlockend. Chary liebte selbst jeden Scherz, und ich wusste genau, dass sie mir diesen kleinen Streich niemals übelnehmen würde.
Ohne lange darüber nachzudenken, griff ich meinen Zauberstab etwas fester und spürte, wie ein Kribbeln der Magie durch meine Finger lief. Leise, aber deutlich formulierte ich den Zauber, den Professorin Cybil uns zuvor gezeigt hatte. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen hob ich entschlossen meinen Zauberstab und flüsterte klar und deutlich:
„Ranken, wachst und eilt herbei,
Fangt sie flink und ohne Schrei!
Haltet fest mit sanfter Kraft,
bis sie’s nicht mehr weiter schafft!
Infini vague a l’ame!“
Aus meinem Stab sprossen sofort grüne, kräftige, aber dornlose Ranken, die sich geschmeidig und geräuschlos in Charys Richtung schlängelten. Geschickt und zielsicher wickelten sie sich um ihre Arme und Beine, fesselten sie in einer Pose, die gleichzeitig witzig und doch ungefährlich war.
Meine Lippen zitterten leicht vor unterdrücktem Lachen, während ich mit verschränkten Armen dastand und wartete, bis Chary realisierte, was passiert war. Ich hob fröhlich eine Augenbraue, die Spitze meines Zauberstabes leicht an meine Lippen gelegt, während ich mich innerlich bereits auf die lustige Reaktion meiner Freundin vorbereitete.
Chary’s POV:
„Mist, schon wieder zu stark…“ murmelte ich vor mich hin, während ich mir den Schweiß von der Stirn wischte und auf einen neuen Versuch ansetzte. Die Idee hinter meinem spezialisierten Fesselzauber war, die Trainingspuppe durch gleichmäßige Klangimpulse an einer Stelle zu halten und somit zu immobilisieren. Doch die Druckwellen waren noch viel zu ungleichmäßig und teilweise sogar zu heftig, sodass die wackeligen Körperteile der Puppe krampfartig zuckten. Auf keinen Fall würde ich so etwas einer echten Person antun wollen, weshalb ich noch immer am Üben war und keine Partnerübung wie alle anderen antreten konnte.
Ich atmete tief ein, um einen neuen Versuch zu wagen, doch brach nur ein lautes Quieken vor Schreck aus mir heraus, als sich aus heiterem Himmel Ranken um meine Arme und Beine umschlossen und mich bewegungsunfähig machten. „W-WAS ZUM…?!“ Ich schwang meinen Kopf in alle Richtungen, während ich mich zu befreien versuchte. Mein Blick fiel direkt auf meine Freundin Nyx, die ihr halbes Gesicht hinter dem Zauberstab versteckte und mich schon äußerst verdächtig schelmisch beobachtete. „NYX! Das warst du, oder?!“ schrie ich aus, nur um ein herzhaft spöttisches Kichern als Antwort zu bekommen. Da konnte ich aber selbst nicht anders; mein Schreck wandelte sich in Gelächter aus. Sie hatte mich gut drangekriegt und das musste ich ihr lassen.
Nichts desto trotz überkam mich der Drang auf eine kleine Revanche. Um den Überraschungsmoment auszunützen nuschelte ich nur sehr leise einen spontanen Zauberspruch über meine Lippen:
„Was sie mir tat bekomme sie nun zurück,
über ein musikalisches, fesselndes Stück.
Ihre Ranken besser bleiben im Topf,
Stehe ihr die Welt nun Kopf.
Al a re laye, al a re layo“
Schon während des Sprechens folgten magisch leuchtende Abbilder von Notenlinien die Ranken entlang, direkt zu ihrem Ursprung. Sie umwickelten die Knöchel der überraschten Blumenhexe und mit einem rhythmischen Schwung zogen sie sie abrupt kopfüber. Meine eigenen „Fesseln“ lösten sich, dadruch, dass Nyx zu überrumpelt war um diese aufrecht zu halten. Ich konnte mir mein Lachen nichtmehr zurückhalten. Der Anblick, wie sich ihr Gesicht farblich ihrem Haar anpasste war einfach zu komisch.
Dass wir beide jedoch keine 5 Minuten später eine ordentliche Standpauke von Professorin Cybil erhielten war vorauszuahnen. Sie belehrte uns lange darüber diese Art von Magie nicht für Scherze zu missbrauchen, doch lobte uns gleichzeitig auch dafür, dass wir erfolgreich einen Zauber genutzt hatten, der keinem von uns beiden Schaden zugefügt hat. Und darüber war ich besonders erleichtert… vielleicht war mein Fesselzauber gegen Ende deshalb harmlos, weil er -anders als bei einer Trainingspuppe- auf meine beste Freundin gezielt war und ich ihr im Leben kein Leid antun würde.