Heute war Wahrsageunterricht bei Professorin Celestine – eine Hexe mit durchscheinenden lila Pupillen, die angeblich den Sonnenaufgang von übermorgen sehen konnte, wenn sie nur tief genug in ihre Kristallkugel sah.

„Eure Aufgabe“, sagte sie heute mit ihrer üblichen Stimme mit Klang eines Windspiels, „ist es, ein Bild in euren Geist zu rufen. Es darf erfunden, erträumt oder gespürt sein. Aber ihr müsst es deuten können – denn Magie ist nicht, was wir sehen, sondern wie wir es verstehen.“

Ich schloss die Augen.

Stille. Der Duft von Lavendel und Sandelholz lag in der Luft.

Dann tauchte vor meinem inneren Auge ein Bild auf:

Ein riesiger Baum stand mitten in einem weißen Feld aus Nebel. Seine Wurzeln waren durchsichtig wie Glas, doch tief und weit verzweigt. In den Ästen tanzten winzige, leuchtende Lichter – wie Glühwürmchen, nur klarer, feiner. Und über allem: ein Wind, der leise durch das Geäst strich, als würde er alte Geheimnisse flüstern.

Ich hob die Hand.

„Ich sehe einen Baum im Nebel“, sagte ich leise. „Seine Wurzeln sind aus Licht, und in seinen Ästen wohnen kleine Funken, Erinnerungen vielleicht. Der Wind bewegt alles, aber sanft – er zerstört nichts. Er verbindet.“

Virella nickte langsam. „Und wie deutest du dieses Bild?“

Ich überlegte einen Moment.

„Der Baum bin ich“, sagte ich schließlich. „Oder… vielleicht jeder, der Magie wirkt. Die Wurzeln stehen für alles, was ich gelernt habe – durchsichtig, aber fest. Die Lichter sind meine Gedanken, meine Ideen, die noch nicht ganz geformt sind. Und der Wind… das ist meine Magie. Sanft, aber stark. Sie bewegt, ohne zu zerbrechen. Sie bringt Dinge in Einklang, nicht aus dem Gleichgewicht.“

Ein leises „Hm“ kam von Professorin Celestine, als würde sie einen Auftrag freudig abgehaken.

Ich spürte, wie sich etwas in mir festigte. Wahrsagen war nie mein stärkstes Fach gewesen. Aber in diesem Moment hatte ich nicht nur ein Bild gesehen – ich hatte verstanden, wer ich als Hexe war. Keine Feuerstürme, keine lauten Flüche. Meine Magie war leise, durchdacht, präzise.

Wie ein Wind, der den Nebel nicht vertreibt – sondern ihn tanzen lässt.