Erneut betritt Iris gemeinsam mit den anderen Schülerinnen und ihren Elfen das hohe Dachzimmer, in dem der Unterricht zur Wahrsagerei stattfindet. Wie auch schon zuvor hat der Raum in sich eine entspannende Wirkung auf sie und sie setzt sich gemütlich mit den anderen Schülerinnen hin.
Eine Eigenschaft, die ihr ansonsten oft Probleme einbringt – nämlich ihre Träumereien – hatten sich hier bisher eher als hilfreich erwiesen. Ihr Geist ist fast immer geöffnet für neue Ideen, neue Eindrücke und die sensibelsten Kleinigkeiten, die sich verändern. Doch heute wird ihr im Unterricht schnell klar … auch in diesem Fach ist Konzentration gefragt. Iris seufzt ein wenig, doch strengt sich dann an. Die letzte Stunde in Wahrsagerei war noch nicht allzu lange her und hatte ihr ein Bruchstück ihrer Zukunft gezeigt. Und für diese Zukunft muss sie nun arbeiten!
Professorin Celestine beginnt den Unterricht mit einer kurzen Einleitung, bis sie schließlich zum Kernthema der heutigen Unterrichtsstunde kommt. „Heute werden wir in die Kristallkugel blicken. Jede einzelne von euch wird etwas sehen – wir haben das ja schon in den letzten Stunde geübt – und dieses Mal möchte ich, dass ihr das Gesehene kreativ wiedergebt. Wie euer Medium ist, dürft ihr selbst entscheiden. So unterschiedlich, wie eure Magie ist, so unterschiedlich kann auch eure Darstellung ausfallen. Es gibt Hexen, die ihr Gesehenes in Bildern einfangen, in Gedichten wiedergeben – was besonders beliebt bei großen Prophezeiungen ist – oder auch in Liedern, Geschichten oder sogar in Musikkompositionen präsentieren. Dafür müsst ihr euch der Gegenwart bewusst sein. Ihr seht zwar in die Zukunft, oder manchmal auch in die Vergangenheit, aber ihr müsst euch selbst in der Gegenwart bewusst bleiben, um eure Prophezeiung in einem Medium einzufangen. Driftet ihr zu sehr in das ab, was euch die Kristallkugel zeigt, wird eure Deutung ungenau sein oder ihr werdet Details vergessen. Bleibt ihr zu sehr im hier und jetzt, wird die Kristallkugel wie von Nebel durchzogen sein. Wahrsagerei ist eine schmale Gratwanderung und ich hoffe, dass ihr heute alle motiviert seid, diesen Weg gemeinsam zu beschreiten.“
Nach den Worten von Professorin Celestine spürt Iris einen Hauch des Zweifels – würde sie es wirklich schaffen, die nötige Konzentration aufzubringen? Doch in der Stimme der Professorin hatte ein gutmütiger Glaube gelegen, dass sie es heute wirklich schaffen können, diese Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft zu beschreiten. Und wenn ihre eigene Professorin an sie glaubt, wie könnte Iris sie enttäuschen?
Nachdem die ersten Schülerinnen bereits in ihre Kristallkugeln blicken, versucht auch Iris von ihren wabernden Gedanken Abstand zu nehmen. Iris atmet ruhig und tief ein und versucht Ruhe in ihren Kopf zu kriegen. Sie schiebt die nahende Prüfung in Hexerei und Magie zur Seite, die sie seit einiger Zeit beschäftigt. Sie schiebt ihre Zweifel zur Seite, die sie daran hindern könnten, ihren Traum als Blütenhexe zu verwirklichen. Sie schiebt vorsichtig, fast achtsam, ihre Gedanken an ihre Familie zur Seite, die sie seit Beginn des Schuljahres nun nicht mehr gesehen hat. Heimweh – auch dieses Gefühl könnte ihre Konzentration stören.
Und dann blickt Iris voller Entschlossenheit in ihre Kristallkugel. Sie kann schwache Zahlen und Symbole erkennen, doch ein weißer Nebel zieht sich über die Zeichen und lässt sie verschwimmen. Vorsichtig öffnet Iris ihren Geist weiter, bis die Symbole wieder deutlicher zu sehen sind. Zwei Zahlen kann Iris schon ausmachen – die 1 und die 3. Dann blitzen kleine, dunkle Schatten auf und wuseln über die Oberfläche der Kristallkugel. Etwas überrascht zuckt Iris zurück und der Nebel kehrt zurück. Ein kleiner Blick in die Zukunft, der notiert werden sollte, kostete doch schon erheblich viel Kraft, denkt Iris bei sich und zieht die Augenbrauen zusammen. Jetzt aber! Mit neuer Konzentration fokussiert sie die Kristallkugel und die kleinen, schwarzen Schatten werden klarer. Es sind winzige Fledermäuse! Eine Fledermaus ist umgeben von Büchern … eine weitere ist mit einem weißen Pulver bestäubt und fliegt panisch durch einen herrlich duftenden Raum. Was ist denn das? Was hat das zu bedeuten? Kurz darauf erscheint eine kleine Fledermaus, die sich vorsichtig an einem Deckenbalken hängt, während eine wunderschöne Melodie erklingt. Die anderen schwarzen Flecken wollen sich, egal wie sehr Iris sich konzentriert, noch nicht in Fledermäuse verwandeln. Doch dann schwenkt das Bild um, und die Symbole für „Reinigung“ und „Turm“ erscheinen in der Kristallkugel. Dann blitzt das Symbol für „heute“ auf. Dann erscheinen erneut die Zahlen: 1, 3, 1, 0 – was das wohl bedeuten soll? Iris konzentriert sich noch einmal besonders, da orientieren sich die Zahlen neu: 31.10! Samhain!
Aufgeregt notiert sich Iris, während sie noch in die Kristallkugel blickt, die Dinge, die sie gesehen hat. Dann löst sie ihre Konzentration von der Kugel, als keine weiteren Informationen auftauchen. Etwas erschöpft blickt Iris auf ihre Notizen in ihrem Notizbuch. „Ich glaube ein Gedicht könnte man gut daraus machen?“, schlägt Elisa vor, die ihre Notizen bereits gelesen hat. „Hm, dabei bin ich so untalentiert bei Gedichten“, murmelt Iris und denkt – ein wenig mit Scham – an das Valentinsgedicht, was sie gemeinsam mit einer anderen Schülerin verfasst hat. „Wie wäre es dann mit einem Bild?“, schlägt Elisa vor und Iris nickt langsam. „Ich glaube mit einem Bild kann man das Gesehene gut darstellen“, sagt sie und beginnt zu malen.
Nach einiger Zeit klatscht Professorin Celestine leise in die Hände und beendet die kreative Phase der Schülerinnen. „Es freut mich, dass ihr alle so eifrig eure Prophezeiungen umsetzt. Nun lasst uns doch einmal über die Ergebnisse schauen, bevor der Unterricht zu Ende geht“, sagt sie und nach und nach stellen die Schülerinnen ihre Werke vor. Einige haben tatsächlich wunderbare Gedichte geschrieben, andere haben in der kurzen Zeit sogar kleine Musikstücke geschrieben. Jede der Hexen hat versucht ihr Gesehenes gut darzustellen, in einem passenden Medium, stellt Iris bewundernd fest. „Nun, wie ihr seht gibt es viele Möglichkeiten, um Wahrsagerei eine Form zu verleihen. Wenn ihr heute noch nicht euer optimales Medium gefunden habt, ist das okay – dafür ist der Unterricht da. Um eure Gedanken und Magie zu schärfen und zu fokussieren und damit ihr euren ganz persönlichen Stil findet.“