LUNASTRIA HEXENAKADEMIE

  • Der Winter kommt
    15 November, 2025||
1 Dezember, 2025| Claire|

Der Morgen ihres zwanzigsten Geburtstags begann wie jeder andere im Haus Micantia: still, kalt und schwer. Doch an diesem Tag lastete die Stille anders. Sie war dichter, schärfer, so als würde das ganze Anwesen den Atem anhalten und warten.

Lillith wusste, was dieser Tag bedeutete.
Mit dem zwanzigsten Jahr bestimmten die Ältesten einen Partner für sie.
Nicht aus Zuneigung.
Nicht aus Hoffnung.
Nur aus Pflicht.

Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich ohne Anklopfen. Drei ihrer Brüder traten ein, düster wie immer, die Blicke voller stummer Verachtung.

„Die Ältesten erwarten dich“, sagte der älteste von ihnen tonlos.
Kein Glückwunsch. Kein Wort der Zuneigung. Nur eine Ankündigung, ein Urteil.

Lillith folgte ihnen in die große Halle. Der Boden war eiskalt unter ihren Füßen, jede Bewegung hallte wie ein Flüstern in einem Grab. Die Ältesten standen auf ihrem Podest wie Statuen aus Stein und Blut.

„Lillith Micantia“, begann die Oberste, „deine Bindung ist beschlossen. In sieben Tagen wirst du vermählt.“

Etwas in Lillith zerbrach.

Nicht leise.
Nicht sanft.
Sondern wie Glas, das gegen Stein geworfen wurde.

Die Luft reichte nicht. Ihr Herz raste. Die Mauern kamen näher. Die Stimmen wurden dumpf. Alles in ihrem Inneren schrie.

Sie hörte sich selbst sagen: „Nein.“

Es war ein so kleines Wort.
Und doch war es lauter als alles, was sie je gewagt hatte.

Die Ältesten hoben die Hände im sinne einer Verwarnung oder Drohung.
Doch Lillith dachte nicht.

Sie rannte.

Sie rannte, noch bevor der Schock die Halle erreichte.
Rannte, als hätte die Erde Feuer gefangen.
Rannte, als hinge ihr Leben an jedem Schritt.

Hinter ihr hörte sie die Stimmen ihrer Brüder.

„Haltet sie!“
„Sie darf nicht entkommen!“
„Sofort hinterher!“

Die Türen krachten auf. Schritte, hart und schnell.
Dann das Zischen von Magie, rote Betäubungsstrahlen, geschmiedet aus vampirischer Disziplin.

Lillith wusste: Wenn sie getroffen wurde, war alles vorbei.

Sie kannte den Wald nur aus ihren heimlichen Ausflügen.
Aber ihre Füße trugen sie instinktiv immer tiefer und weiter dorthin, wo die Welt nicht ganz so dunkel gewesen war.
Dorthin, wo ein goldenes Lachen ihr Herz berührt hatte.

Zur Lichtung.

Zu ihm.

Aber heute war sie leer.

„Nein… nein, nein… Damien… bitte,“

Ein Betäubungsstrahl schoss dicht an ihr vorbei.
Ihr Herz stand still.
Der zweite kam näher.

Und dann, zog ein Windstoß an Lillith vorbei.
Ein Schatten stürzte vom Himmel herab, schnell wie ein Sturzflug eines Falken.
Flügel schlugen durch die Luft. Erde wirbelte auf.

Damien prallte zwischen sie und die Angriffe, sein Körper wie ein Schild aus Feuer und Fleisch.

Der Strahl traf ihn am linken Horn.

Ein Riss, tief und scharf, zog sich hindurch.
Dunkelrotes Drachenblut rann über seine Schläfe.

„Damien!“ Lilliths Stimme brach.

Er lächelte schwach, trotz des Schmerzes.
„Ein Glück… dass ich rechtzeitig da war.“

Seine Stimme war warm. Zu warm.
Es brachte ihr Herz zum Zittern.

„Bitte… tu ihnen nichts“, flüsterte Lillith hektisch.
„Sie wissen nicht, was sie tun. Sie gehorchen nur… den Regeln…“

Damien sah sie an.
Ihr Blick war flehend, voller Angst und Schuld.

Er nickte.
„Für dich halte ich mich zurück.“

Doch ihre Brüder kannten kein Zögern.

„Gib sie her, Drache!“
„Sie gehört dem Haus Micantia!“
„Sie hat keinen Willen!“

Magie jagte durch die Lichtung, schneller, chaotischer.
Damien stellte sich vor Lillith, blockte Strahl um Strahl mit bloßen Händen.
Jedes Mal erzitterte sein Körper.
Jedes Mal rückten die Brüder näher.

„Damien! Hör auf, dich treffen zu lassen!“
„Es geht… schon…“, knurrte er, obwohl das Blut sein Horn hinunterlief.

Der jüngste Bruder sprang vor und schleuderte eine konzentrierte Ladung Betäubungsmagie.
Damien versuchte diese ebenfalls noch zu parieren, doch die Kraft war zu stark, zu steil gebündelt und traf ihm direkt erneut am linken Horn.
Mit einem scharfen Knacken brach das Horn.

Ein Schrei doch nicht von Damien, sondern Lilliths stimme durchschnitt die Lichtung.
Damien sank auf ein Knie, Blut tropfte auf den Waldboden.

Das donnernde Geräusch, das darauf folgte, war kein natürlicher Klang.
Es war Macht.

Die Ältesten erschienen.

Wie Schatten, die aus dem Nebel geboren wurden.
Wie Richter, die kein Herz besaßen.

„Lillith Micantia“, sprach die Oberste, und ihre Stimme hallte wie Stahl.
„Du hast nicht nur die Regeln gebrochen. Du hast die Reinheit unserer Linie beschmutzt.“

Lillith wankte.
Damien versuchte aufzustehen, aber Lillith hielt ihn zurück.
Sie wusste, das war ihr Kampf.

Die Älteste hob die Hand.
Ein roter Nebelschimmer bildete sich um Lilliths Hals, um die Kette aus ihrem eigenen Blut, die sie seit Geburt getragen hatte.

„Wir entziehen dir deinen Namen.“

Ein Riss.
Ein weiterer.
Die Kette pulsierte schmerzhaft gegen ihre Haut.

„Bitte… nicht…“

Doch die Älteste vollendete den Ritus.

Die Blutkette zersprang.

Ein Schmerz schoss durch Lilliths Körper brennend, zerrend, reißend.
Es war, als wäre ein Teil ihrer Seele herausgebrochen worden.
Sie brach auf die Knie, die Hände an der Kehle, wo nun eine blutige Wunde zurückblieb.

„Du bist nicht länger eine Micantia“, sagte die Älteste kalt.
„Kommst du je in die Nähe unseres Hauses… wirst du nicht überleben.“

Ohne einen weiteren Blick drehten sich die Ältesten um und verschwanden.
Die Brüder folgten ihnen schweigend, ohne Lillith auch nur anzusehen.

Nur der Wald blieb zurück.
Und Damien.
Blutend. Keuchend.
Lillith kroch zu ihm.
„Es ist… wegen mir… dein Horn… Damien, es tut mir so leid…“

Er legte ihr einen Finger auf die Lippen.
Sanft. Beruhigend.
„Nein, Lillith. Es ist nur ein Horn. Du aber… du lebst.“

Sie schüttelte den Kopf, Tränen brennend in den Augen.
„Du hast mich gerettet.“

„Und werde es immer wieder tun.“

Er nahm ihre Hand die ihr das das Gefühl von wärme und Sicherheit geben.

„Komm. Wir gehen.“

„Wohin?“, flüsterte sie.

Ein Lächeln nur voller Wärme.